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Istanbul - Beijing 2004
Juni 15, 2004
 
Eindruecke vom Leben im Iran

Andrea wird oft gefragt, ob sie denn die vorgeschriebene Bekleidung nicht muehsam finde. Natuerlich ist sie das, Mantel und Kopftuch sind im Sommer zu warm und schraenken die Bewegungsfreiheit ein, aber fuer einige Wochen ist es auszuhalten. Besonders schwierig zu tragen ist der Chador, der an manchen heiligen Staetten Pflicht ist - bei den Iranerinnen sieht das Tragen einfach und elegant aus, aber das grosse Tuch verrutscht dauernd. Es waere zum Haareraufen, wenn diese nicht vom Kopftuch und Chador bedeckt waeren. Waehrend der Chador fuer viele Frauen Tradition und Gewohnheit ist, auch ein Schutz, hinter dem sie sich verstecken koennen, sind die Vorschriften fuer eher westlich orientierte Frauen sehr einschraenkend. Frauen duerfen zum Beispiel nicht oeffentlich Fahrrad fahren (wohl aber Auto, und die typische iranische Familie besteht aus Mann, Frau und Kind auf einem Motorrad) oder singen, und es stoert unsere Gespraechspartnerinnen, dass sie bei der Kleidung keine Entscheidungsfreiheit haben. "Uniform" nennen sie ihre Maentel. Die Vorschriften werden zwar nicht mehr so eng interpretiert, sind aber doch symptomatisch fuer den Eingriff des Staates ins Privatleben. Denn auch die Freiheit, sich zu kleiden, wie man will, sagt Sita, reicht nicht aus. Es ist die Freiheit im Kopf, die wir wollen.

Der Staat greift auch ins Leben der Maenner ein. Zwei Jahre muessen sie Militaerdienst leisten, sonst koennen sie kein Eigentum besitzen (nicht einmal ein Auto, geschweige denn ein Geschaeft) und das Land nicht verlassen. Zwei Jahre sind eine lange Zeit fuer die erfolgreichen jungen Maenner, welche zu Studienzwecken oder geschaeftlich ins Ausland reisen moechten. Die einzige Alternative ist die Beschaffung eines gefaelschten Dienstausweises - mit Geld ist auch hier alles moeglich. Apropos Geld: So viele Banken wie im Iran gibt es wohl sonst nirgends. Kein Wunder, muessen doch alle Transaktionen bar oder mit Cheques abgewickelt werden.

Viele Leute, mit denen wir uns unterhalten, machen einen unzufriedenen Eindruck. Wir treffen eine Witwe in unserem Alter mit vier fast erwachsenen Kindern, welcher der aeltetste Sohn verbietet, den Mann ihrer Wahl zu heiraten. Nun sucht sie im Internet einen auslaendischen Mann, damit sie das Land verlassen kann. Eine Krankenschwester bueffelt Englisch, um eine Arbeitsbewilligung fuer Grossbritannien zu erhalten, und hat sogar zum Christentum konvertiert. Eine ungluecklich verheiratete Hausfrau hat kaum Chancen, sich scheiden zu lassen, und wenn, dann wuerde sie das Sorgerecht fuer ihr Kind verlieren. Stattdessen uebersetzt sie ein amerikanisches Selbsthilfebuch fuer Geschiedene auf Farsi. Ein aelterer Herr auf einer Parkbank bittet uns, ihm bei der Uebersetzung einiger Passagen aus einem deutschen Buch zu helfen. Seinen Beruf als Schuhmacher liebt er nicht, sieht aber keine Chance, mit seiner Herkunft in die Tourismusbranche wechseln zu koennen. Ein Student gibt seinem Aerger ueber das herrschende Regime offen Ausdruck und hofft, dass wir ihm eine Schweizer Ehefrau organisieren koennen... Was diese Mischung aus Frust und eigenen Zielen fuer das Land als Ganzes bedeutet, koennen wir schwer interpretieren. Was wir wissen, ist dass die meisten der Unzufriedenen nicht an die Urne gehen und gerne Verschwoerungstheorien Glauben schenken. So soll sich auch heute das iranische Regime zum Schaden des Landes mit den Briten verbuendet haben. Als Beispiel ein Beweis: dass im Iran noch immer voellig ueberholte Automodelle hergestellt werden, liegt daran, dass
dadurch einer britischen Firma (Talbot, wenn sich noch jemand an diesen Namen erinnern kann) die Moeglichkeit gegeben wird, ihre Motoren zu liefern. Und wir dachten immer, ein Grund fuer die Revolution sei die starke britische Abhaengigkeit des Shah gewesen. Auch die Verleihung des Friedensnobelpreises an Shirin Ebadi wird von unseren GespraechspartnerInnen als politisches Raenkespiel zum Nutzen des Regimes gedeutet.

Viel ist von der revolutionaeren Propaganda nicht uebrig geblieben, jedenfalls nicht fuer uns lesbar. Trotzdem einige Leckerbissen:
"Das Ziel dieser Ausstellung (im Juwelenmuseum) ist, mehr ueber die iranische Geschichte, die Kultur, Schicksale der frueheren Gewaltherrscher und ueber Habgier zu vermitteln, um so das Erbe der Vergangenheit seinem Urteil gegenueberzustellen. (...) Seit der glanzvollen islamischen Revolution wird die Schatzkammer von einer verantwortungsvollen und revolutionaeren Belegschaft der Bank beaufsichtigt." (Sind das die gut gekleideten Herren, die Tee trinken und Patisserie essen?)
In der heiligen Stadt Mashhad duerfen wir aus einer ganzen Reihe von Broschueren eine aussuchen und entscheiden uns fuer "The Truth about Christianity": "A world where freedom fighters and liberated people are no longer ready to submit themselves to colonialist exploitations, they are engaged in abolishing their plundering expeditions." Nebst philosophischen Abhandlungen ueber den Unsinn der Dreifaltigkeit gibt es unterhaltsamere Kapitel ueber den Zwang zum Alkoholgenuss in der christlichen Kirche und die Exzesse der Christen zu Weihnachten (Alkohol, Voellerei, gar Sex!) Vielleicht haetten wir der Institution mit der Wahl eines anderen Buchs mehr Rechnung getragen. Die Angestellten jedenfalls waren uns gegenueber sehr hoeflich und zuvorkommend.

Erst gestern haben wir eine Familie getroffen, welche die Revolution zwar nicht begruesste, sie aber differenzierter betrachtet. Das Bildungsniveau im Iran ist seit der Revolution deutlich hoeher, und gerade Frauen haben mehr Chancen zu studieren. Auch auf dem Arbeitsmarkt sind sie erst nach der Revolution praesent geworden. Dem Jahrtausende alten kulturellen Erbe wird - nach einer ersten zerstoererischen Phase - heute mehr Sorge getragen als zu Shahs Zeiten.

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